Die Katholische Auffassung

In einem 1975 in der Schweiz erschienen „katholischen Katechismus“ heißt es: „Die Anweisungen in der Bergpredigt sind nicht wörtlich zu nehmen, weil das sowohl im privaten wie im öffentlichen Leben zu unhaltbaren Zuständen führen würde.“ Für die traditionelle katholische Lehre vor dem 2. Vatikanischen Konzil (1962-1965) war es jedoch keine Frage, dass die Gebote der Bergpredigt wörtlich zu verstehen sind. Der verpflichtende Charakter der Berglehre für ein christliches Leben und zugleich deren übergroßer Anspruch hat dabei zu einer dualistischen Lehre geführt. Man unterschied einerseits zwischen den praecepta Dei, den Geboten Gottes, die für alle Christen in der Welt bindender Wille Gottes sind, und andererseits den consilia evangelica, den Ratschlägen des Evangeliums. Unter den ersten verstand man im wesentlichen die Zehn Gebote (Dekalog), unter den 'evangelischen Räten' aber, die der Christ in der Welt nicht erfüllen kann, die Gelübde von Armut, Keuschheit und Gehorsam, die ein Mönch auf sich nimmt. Die radikalen Gebote der Bergpredigt sind consilia evangelica (Ratschläge) für die Vollkommenen, die sich der mönchischen Regel unterwerfen. Die Bergpredigt wird auf diese Weise zur Mönchsregel. Die in der Welt, in Ehe, Arbeit und Staat lebenden „Weltchristen“ dagegen können die radikalen Gebote nicht voll erfüllen; sie können z.B. nicht auf irdischen Besitz verzichten; sie müssen sich, abgekürzt ausgedrückt, an die Zehn Gebote halten als an ein Minimum der Gebotserfüllung. Natürlich heißt das nicht, dass die Weltchristen nicht den Nächsten lieben sollen, aber sie können das nur in den weltlichen Grenzen der sozialen Strukturen tun, in denen sie leben. Nur wer sich von der Welt zurückzieht, kann die radikalen Gebote der Bergpredigt erfüllen. Dies ist die Auffassung der katholischen Kirche vor dem II. Vatikanischen Konzil.
Man kann hier mit dem kritischen katholischen Theologen Hans Küng polemisch von einer 'Zwei-Klassen-Ethik' sprechen. Man sollte aber auch überlegen, welche durchaus vernünftigen Einsichten zu einer solchen Deutung geführt haben.

 

Auf das radikale Ernstnehmen des Willens Gottes zielt die Bergpredigt, in der Mattäus und Lukas die ethischen Forderungen Jesu - kurze Sprüche und Spruchgruppen hauptsächlich aus der Logienquelle Q - gesammelt haben. Sie hat Christen und Nichtchristen - die Jakobiner der Revolution und den Sozialisten Kautsky ebenso wie Tolstoi und Albert Schweitzer - immer wieder neu herausgefordert.

Was will die Bergpredigt?
Eines kann vorausgenommen werden: Die Bergpredigt will sicher keine verschärfte Gesetzesethik sein. Irreführend hat man sie bisweilen als „Gesetz Christi“ bezeichnet. Doch wird in ihr gerade das angesprochen, was nicht Gegenstand einer gesetzlichen Regelung werden kann. Eine quantitative Steigerung der Forderungen ist mit der „besseren Gerechtigkeit“ oder der „Vollkommenheit“ nicht gemeint. Jesus verwirklicht, wie die Antithesen der Bergpredigt erkennen lassen, gerade nicht jenen Gehorsam gegenüber Jota und Häkchen des Gesetzesbuchstabens, den ein judenchristliches Logion, welches von Mattäus zitiert wird, fordert. Damit würde der Gehorsam - in diesem Fall nicht liberal, sondern ultrakonservativ - entschärft. Seine Botschaft ist überhaupt nicht eine Summe von Geboten. Ihm nachzufolgen bedeutet nicht die Ausführung einer Anzahl von Vorschriften. Nicht umsonst stehen an der Spitze der Bergpredigt Glückverheißungen für die Unglücklichen. Das Geschenk, die Gabe, die Gnade geht der Norm, der Forderung, der Weisung voraus: Jeder ist gerufen, jedem das Heil angeboten, ohne alle Vorleistungen. Und die Weisungen selber sind Konsequenzen seiner Botschaft vom Gottesreich. Nur beispielhaft, zeichenhaft nimmt er Stellung. Aber damit ist noch keineswegs klar, was die Bergpredigt will:

Eine Zwei-Klassen- Ethik? Die minimale, normale Gerechtigkeit der Gebote für das Volk, und die „bessere Gerechtigkeit“ oder „Vollkommenheit“ für die Jünger oder besonders die Auserwählten? So die traditionelle katholische Lehre vor dem Vatikanum II. Doch die Bergpredigt ist keine Mönchsregel: Die „Räte“ (consilia evangelica) sind allen gesagt. Es kommt überhaupt nicht ins Himmelreich, wer nicht gerade die bessere Gerechtigkeit erfüllt, die somit auch nach Mattäus von jedermann gefordert ist.

Eine unerfüllbare Bußethik? Ist die Bergpredigt ein einziger Bußruf und Beichtspiegel, durch den der Mensch seiner sündigen Ohnmacht zum Guten überführt werden soll? So Martin Luther. Gewiss hält die Bergpredigt dem Menschen den Spiegel vor und deckt auf, was er ist. Doch sie fordert in einer neuen Situation durchaus ein neues Tun. Keine Umkehr ohne das Tun des Willens Gottes, ohne gute Werke, ohne Taten der Liebe. Nirgendwo wird gesagt, dass Jesus an unserer Statt die absoluten Forderungen der Bergpredigt erfüllt.

Eine reine Gesinnungsethik? Genügt die gute Gesinnung, das gute Herz? So Kant, der philosophische Idealismus und der theologische Liberalismus des vergangenen Jahrhunderts. Gewiss: Die Tat wird in der Bergpredigt relativiert, das Motiv ist letztlich ausschlaggebend, das Wie und Warum ist wichtiger als das Was. Aber es genügt nicht, das Gute gewollt zu haben. Die Bergpredigt dringt auf das Tun. Die Tat ist keineswegs belanglos. Vielmehr wird schon die Gesinnung als Tat genommen und Gehorsam bis in die konkrete Tat hinein gefordert. Herz und Handeln sind nicht zu trennen.

Eine neue Gesellschaftsethik? Der Entwurf einer wörtlich zu befolgenden neuen Gesellschaftsordnung der Liebe und des Friedens, des Reiches Christi auf Erden, für das staatliche Gewalt und Rechtsordnung, Polizei und Armee nicht mehr notwendig sind? So im Lauf der Kirchengeschichte viele (stille und revolutionäre) Schwärmer und in unserem Jahrhundert Graf Leo Tolstoi wie auch manche religiöse Sozialisten. Gewiss darf die Bergpredigt nicht rein privat nur für die persönlichen und familiären Beziehungen verstanden werden. Es gibt Zustände der Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Entmenschlichung, die von der Bergpredigt her aufgedeckt und bekämpft werden müssen, wo die Liebe handeln muss. Aber trotzdem wird das Reich Gottes nicht durch die moralischen Taten der Menschen begründet. Und nirgendwo wird die Bergpredigt als das Grundgesetz einer neuen Gesellschaft vorgestellt, mit Hilfe dessen die Welt von allen Übeln befreit werden soll. Wie die Bergpredigt nicht auf die individuellen und familiären Verhältnisse beschränkt werden darf, so auch nicht einfach zu einem Sozialprogramm ausgeweitet.

Eine kurzfristige Interimsethik? Eine „Ausnahmegesetzgebung“ für die letzte Zeit? Radikale Forderungen; die nur für die kurze Zeit bis zum nahen Weltende überhaupt erfüllbar, jetzt jedoch sinnlos geworden sind? So J. Weiss und A. Schweitzer. Zweifellos steht die Bergpredigt im Rahmen der Botschaft vom bald kommenden Gottesreich. Aber sie erklärt sich nicht ausschließlich vom apokalytpischen Feuerschein des nahen Endes her. Jesu Forderungen, etwa die Nächstenliebe, werden nicht einfach vom nahen Weltende, sondern grundsätzlich vom Willen und Wesen Gottes her motiviert. Es werden nicht außerordentliche, heroische Taten (Weggeben allen Besitzes, Martyrium) verlangt, sondern sehr alltägliche Liebestaten. Gerade im Tun des Willens Gottes erweist sich die ständige Bereitschaft für das nahe Reich Gottes. Allerdings: In der „letzten Zeit“ tritt Gottes Wille klar und rein hervor, geschieden von allen „Menschensatzungen“ .Die Nähe Gottes gibt den Forderungen Jesu außerordentliche Dringlichkeit, aber auch die frohe Gewissheit der Erfüllbarkeit.

Dies ist der Generalnenner der Bergpredigt: Gottes Wille geschehe! Mit der Relativierung des Willens Gottes ist es vorbei. Keine fromme Schwärmerei, keine reine Innerlichkeit, sondern den Gehorsam der Gesinnung und der Tat. Der Mensch selbst steht in Verantwortung vor dem nahen, kommenden Gott. Nur durch das entschlossene, rückhaltlose Tun des Willens Gottes wird der Mensch der Verheißungen des Reiches Gottes teilhaftig. Gottes befreiende Forderung aber ist radikal. Sie verweigert den kasuistischen Kompromiss. Sie überschreitet und durchbricht die weltlichen Begrenzungen und rechtlichen Ordnungen. Die herausfordernden Beispiele der Bergpredigt wollen gerade nicht eine gesetzliche Grenze angeben: nur die linke Wange, zwei Meilen, den Mantel - dann hört die Gemütlichkeit auf. Gottes Forderung appelliert an die Großzügigkeit des Menschen, tendiert auf ein Mehr. Ja, sie geht auf das Unbedingte, das Grenzenlose, das Ganze. Kann Gott mit einem begrenzten, bedingten, formalen Gehorsam - nur weil etwas geboten oder verboten ist -zufrieden sein ? Da würde ein Letztes ausgespart, was alle noch so minutiösen Rechts- und Gesetzesbestimmungen nicht fassen können und was über die Haltung des Menschen entscheidet. Gott will mehr: Er beansprucht nicht nur den halben, sondern den ganzen Willen. Er fordert nicht nur das kontrollierbare Äußere, sondern auch das unkontrollierbare Innere - des Menschen Herz. Er will nicht nur gute Früchte, sondern den guten Baum. Nicht nur das Handeln, sondern das Sein. Nicht etwas, sondern mich selbst, und mich selbst ganz und gar . Das meinen die verwunderlichen Antithesen der Bergpredigt, wo dem Recht der Wille Gottes gegenübergestellt wird: Nicht erst Ehebruch, Meineid, Mord, sondern auch das, was das Gesetz gar nicht zu erfassen vermag, schon die ehebrecherische Gesinnung, das unwahrhaftige Denken und Reden, die feindselige Haltung sind gegen Gottes Willen. Jegliches „Nur“ in der Interpretation der Bergpredigt bedeutet eine Verkürzung und Abschwächung des unbedingten Gotteswillens: „nur“ eine bessere Gesetzeserfüllung, „nur“ eine neue Gesinnung, „nur“ ein Sündenspiegel im Licht des einen gerechten Jesus, „nur“ für die zur Vollkommenheit Berufenen, „nur“ für damals, „nur“ für eine kurze Zeit. ..

Wie schwierig es freilich für die spätere Kirche war, Jesu radikale Forderungen durchzuhalten, zeigen ihre Entschärfungen schon in der (palästinisch-syrischen) Gemeinde des Mattäus: Nach Jesus soll jeglicher Zorn unterbleiben, nach Mattäus zumindest bestimmte Schimpfworte wie „Hohlkopf“, „Gottloser“. Nach Jesus soll man das Schwören überhaupt unterlassen und mit dem einfachen Ja oder Nein durchs Leben kommen, nach Mattäus zumindest bestimmte Schwurformeln vermeiden. Nach Jesus soll man dem Nächsten die Verfehlung vorhalten und, wenn er davon absteht, ihm vergeben; nach Mattäus muss ein geregelter Instanzenweg eingehalten werden. Nach Jesus soll dem Mann - zum Schutz der rechtlich empfindlich benachteiligten Frau - die Scheidung bedingungslos verboten sein; nach Mattäus darf zumindest im Fall krassen Ehebruchs der Frau eine Ausnahme gemacht werden.

Alles nur Erweichungstendenzen ? Es muss darin zumindest auch das ehrliche Bemühen um die bleibende Gültigkeit der unbedingten Forderungen Jesu in einem Alltag gesehen werden, der nicht mehr von der Naherwartung des kommenden Reiches bestimmt ist. Man denke zum Beispiel an die Ehescheidung, die Jesus ganz unjüdisch gegen das patriarchalische mosaische Gesetz rigoros verboten hatte mit der apodiktischen Begründung, dass Gott die Ehen zusammenfüge und nicht wolle, dass Menschen lösen, was er vereinte. Die zwischen den Schulen der Gelehrten Schammai und Hillel heftig umstrittene Frage, ob nur eine geschlechtliche Verfehlung (Schammai) oder praktisch jegliche Sache wie selbst ein angebranntes Essen (Hillel, nach Philon und Josephus die gängige Praxis) Grund zur Entlassung der Frau sein könne, war für Jesus völlig unwichtig. Ihm ging es um das Entscheidende. Freilich: Die angesichts des sich hinauszögernden Endes drängend gewordene Frage, was zu geschehen habe, wenn trotz Gottes unbedingter Forderung Ehen zerbrechen und das Leben weitergehen soll, war von Jesus nicht beantwortet worden und musste nun beantwortet werden. Der unbedingte Appell Jesu zur Bewahrung der Einheit der Ehe wurde nun als eine Rechtsregel verstanden, die gesetzlich immer genauer fixiert werden musste: Dem Verbot der Entlassung und Wiederheirat der Frau wurde im Hinblick auf die hellenistische Rechtslage das Verbot der Scheidung seitens der Frau samt Ausnahmeregel für Mischehen - wie das Verbot der Wiederheirat für beide Teile hinzugefügt; doch musste man so auch den Ehebruch als Ausnahmegrund für eine Ehescheidung zugestehen. Ob eine andere Antwort als die wiederum kasuistische Lösung durch gesetzliche Festlegung der einzelnen Fälle möglich gewesen wäre?

Jesus selber jedenfalls, kein Jurist, ließ es mit seinen unbedingten Appellen bewenden, die in der jeweiligen Situation zu realisieren waren. Das zeigt sich am Beispiel des Eigentums, wo Jesus, wie noch zu sehen sein wird, weder allen den Verzicht noch auch das Gemeineigentum verordnet hat: der eine wird den Armen alles opfern, ein anderer die Hälfte geben, wieder ein anderer durch ein Darlehen helfen. Die eine gibt für Gottes Sache das Letzte, andere üben sich in Dienst und Fürsorge, eine dritte treibt scheinbar sinnlose Verschwendung. Gesetzlich geregelt wird hier nichts. Und so braucht es auch keine Ausnahmen, Entschuldigungen, Privilegien und Dispensen vom Gesetz !

Die Bergpredigt zielt freilich keineswegs auf eine oberflächliche Situationsethik, als ob einfach das Gesetz der Situation dominieren dürfte. Nicht die Situation soll alles bestimmen. Vielmehr, in der betreffenden Situation, die unbedingte Forderung Gottes selbst, die den Menschen ganz in Beschlag nehmen will. Im Hinblick auf das Letzte und Endgültige, das Gottesreich, wird eine grundlegende Veränderung des Menschen erwartet.

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